Die Fotografin über sich

Ein Huhn wie du und ich

Immer wieder werde ich gefragt: „Wo nehmen Sie nur diese fotogenen Hühner her?“

Nun, als ich mich dazu entschloß, diese neue Art der Tierfotografie zu entwickeln, fuhr ich zunächst einmal zu einem Bauernhof, der mehrere Legebatterien hatte. Der Landwirt führte mich zu den Stallungen und überließ es mir, meine gewünschten zwei Hühner selbst auszusuchen.

Der Eindruck, als 100.000 Hühnerköpfe in meine Richtung zuckten, während die schwere Eisentür hinter uns ins Schloß fiel, wird mir für alle Zeiten unvergessen bleiben.

Sonnenlicht konnte durch die schmalen Lüftungsklappen niemals gelangen, hier strahlte ewiges Neonlicht. Zu viert standen sie mit ihren Füßen auf Gittergeflecht in einem Käfig von weniger als einem halben Quadratmeter.

Welche zwei Hühner aus dieser unendlich langen Reihe von Käfigen sollte das Glück einer besseren Zukunft treffen? Ich zeigte auf dieses Huhn, dann auf jenes, unfähig, mich angesichts dieser Masse von leidenden Kreaturen zu entscheiden.

Ungeduldig über meine Entschlußlosigkeit griff der Bauer unwirsch nach vier Hühnerbeinen und hielt mir die dazugehörigen Tiere mit dem Kopf nach unten hängend vor die Nase.

Unglücklich, nur zwei von so vielen Hühnern retten zu können, ergriff ich sie, woraufhin wir vom Stallbesitzer höflich aber bestimmt ins Freie gedrängt wurden. Es war offensichtlich: hier wurden Hühner wie Ware gelagert, ohne die geringste Achtung vor ihrem Leben oder ihren Bedürfnissen.

 

Hatte ich anfänglich gedacht, daß meine beiden Hühner über ihre neue Freiheit hocherfreut sein würden, so hatte ich mich geirrt. Auf dem Rasen freigelassen, blieben sie wie in Trance angewurzelt stehen und zuckten erschreckt zusammen, sobald ein Windhauch durch die Blätter des nahestehenden Baumes fuhr.

Auch die appetitlichsten " Hühner-Leckereien", die ich ihnen vorsetzte, lösten bei ihnen nicht die geringste Freßlust aus.

Zu ihrem Schutz baute ich ihnen eine Art Gehege, doch auch hierin schienen sie sich weder sicher noch wohler zu fühlen. Ich setzte sie hierhin, dann dorthin, aber immer blieben sie teilnahmslos stehen.

Nachdem meine Bemühungen und mein Zureden nichts halfen, war ich schließlich davon überzeugt, daß sie die erste Woche in Freiheit nicht überstehen würden. Doch dann hatte ich den rettenden Einfall: Ich besorgte ihnen einen an Freiheit gewöhnten Hahn. Im Handumdrehen brachte er ihnen bei, wie man frißt und sich bewegt, kurzum was ein wirkliches Hühnerleben ausmacht. Ich konnte deutlich sehen, wie sich ihre Lebensfreude von Tag zu Tag mehrte.

Einmal wurde ich Zeuge eines Geschehens, das mich tief berührte. Im Gehege befand sich eine Kiste mit einer offenstehenden, beweglichen Tür.

Ein Huhn wagte sich zum ersten Mal auf diese Kiste und sprang hinunter. Diesen Sprung wiederholte es unermüdlich. Zunächst noch überaus vorsichtig und mit mehrmaligen Ansatz, balancierte es schon bald mit seinen Flügeln schwankend auf der Oberkante der wackelnden Tür.

Erneut sprang es hinunter, wieder hinauf, erprobte neue Varianten, landete schließlich wieder auf dem Boden und schoß am Ende wie ein Pfeil, flügelschlagend und vor Begeisterung gackernd, noch eine Weile durchs Gehege.

Dass auch ein kleines Geschöpf wie dieses Huhn tiefe Lebenslust empfindet und Freude daran hat, sich bewegen zu können, kann wohl kaum deutlicher als in dieser Szene werden.

Übrigens nennen wir sie "die Lady", und sie herrscht heute als Oberhaupt nebst Gockel Rudi über eine 13köpfige Hühnerschar.

Durch meine langjährigen Beobachtungen vieler Hühnergenerationen weiß ich inzwischen ganz sicher, daß auch ein gewöhnliches Huhn ein Gefühl seines Selbst, eine Identität hat. Es besitzt Gefühlsreichtum und individuelle Ausdrucksmöglichkeiten, die wir Menschen in unserer Selbstgefälligkeit im allgemeinen nur uns selbst zuschreiben.

Da das Huhn uns zur Nahrung dient, sind wir es ihm schuldig, ihm ein angemessenes, seinen Bedürfnissen entsprechendes Leben zu bieten.

Aber unsere Behandlung ist, vielleicht gerade, weil es uns dient, respektlos und verachtend. Wir übersehen dabei nur allzuleicht, das kranke und geschundene Tiere niemals gesunde Nahrung liefern können.
Unsere Gleichgültigkeit dem Leben und der Natur gegenüber schlägt so erneut auf uns zurück, in Form von Bluthochdruck, zu hohem Cholesterinspiegel, Krebs, BSE, etc., etc., etc.

Nur ein klares NEIN des Verbrauchers schützt ihn selbst und verhilft unseren Mitgeschöpfen allmählich zu besseren Lebensbedingungen.

Aus diesem Grund gehöre ich seit vielen Jahren konsequent zu den Vegetariern.

Die Eier von meinen Hühnern schmecken hervorragend, und es ist im Sommer schon vorgekommen, daß mich ein Huhn auf dem Rasen besuchte, um neben mir ein Ei zu legen. Wenn das kein Geschenk war?

Renate Spekowius

Ausgezeichnet.org